September 1983.
Für die in Mitte der 70er geborenen Kids von damals ging es 1983 zur Ersteinschulung. Wir ABC-Schützen lernten anhand des Zahlenstrahls Mathematik von 1 bis 10. In Deutsch bauten wird mit dem Setzkasten erste sinnvolle (- oder freie) Sätze und lernten unsere Klassenkameradinen- und kameraden kennen, viele Schulfreunde wandelten sich zu Freundschaften, die bis heute konstant sind.
Es war an einem Freitag, den 23.09.1983. In Deutschland bereitete man sich auf das Wochenende vor, plante die Einkäufe zum Samstag, und genoß letzten Sonnenstrahlen an diesem Spätsommertag. Die Wetterchronik zeigt, dass der September damals trüber als Durchschnitt, es aber auch nicht zu frisch war. In Deutschland also.
Die Tragik des Geschehens.
An einem anderen Ort am 23.09.1983, kurz nach Mitternacht, in einem Kommandostützpunkt nahe Sephukhov südlich von Moskau schrillten die Alarmanlagen. Ein russischer Kosmos-Satellit meldete den Start einer Rakete in Montana, USA. Als „Kosmos“ bezeichnet Russland nahezu alle ihre Satellitentechnologien. So zum Beispiel Satelliten zur Luftdichtemessung „Kosmos 146“ oder Systeme zur Geomagnetischen Forschung „Kosmos 26“. So gabe es – wie heute auch noch – militärische Satellitensysteme, die unter dem Kosmos-Programm betrieben wurden. Die Technik der Satelliten selbst beschreibe ich weiter unten näher.
Es ging also los, der Erstschlag wurde von USA durchgeführt – wie von den Russen befürchtet. Der an diesem Tag leitende Kommandeur Oberst Stanislav Petrow – der tragische Held dieser Geschichte – war lt. Protokoll dazu befehligt, militärische Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Die Russischen Raketen müssen innerhalb von 30 Minuten auf den Weg gebracht werden, da sonst dem feindlichen Erstschlag des Westens nichts mehr entgegenzusetzen wäre. Einzig die im Nordmeer bei Murmansk stationierten U-Booten sollen mit mobil stationierten Kernwaffen die Zweitschlagsfähigkeit gewährleisten. Damals, im Jahre 1983 waren in der nördlichen Hemisphere über 10.000 Raketen startbereit. Alleine in Deutschland lagerten an über 100 Standorten über 4000 Atomraketen. Diese unvorstellbare Zahl massenvernichtender Waffen hätten im Ernstfall für uns unvorstellbare Folgen bedeutet. Eine Gegenprüfung des Vorfalls mit optischen Systemen war aufgrund des Sonnenstandes nicht möglich.
Wenige Minuten nach der Meldung des ersten Raketenstarts meldete das gleiche Frühwarn-Satellitensystem den Start einer zweiten Rakete im US-Bundesstaat Montana. Es waren also „nur“ zwei Raketen vom Nordamerikanischen Kontinent gestartet. An diesem Tag sollte sich der Vorfall wiederholen, 5 Starts wurden gemeldet.
Wieso leitete Petrow nicht den Gegenschlag ein? Intuitiv erkannte Oberstleutnant Petrov, dass der Westen nicht mit zwei oder fünf Raketen einen Angriff startete, der unkalkulierbare Folgen nach sich gezogen hätte. Er sagte bei einem Interview: „Mein Kopf war wie ein Computer, in dem viele Informationen dafür sprachen, dass der Start Teil eines bevorstehenden Angriffs war. Aber als ich die Entscheidung traf, verließ ich mich nur auf mein Gefühl.“ (Quelle: ZDF History – die Welt am Abgrund)
Das Kosmos-System und die Molniya-Bahn.
Was wurde über Kosmos gemeldet? Die Kosmos-Satelliten vom Typ „Oko“ z. dt. „Auge“ waren als Frühwarnsystem konzipiert und sollten den Startblitz von startenden Raketen erkennen. Kontrolliert wurden die Systeme über Serphukhov-15, nahe Moskau für die westliche Hemisphäre und Komsomolsk am Amur im russischen Fernen Osten für die östliche Hemisphäre. Die System umkreisten die Erde in einem hochelliptischen Orbit von 600 km bis 35000 km. Wie kommt eine solche Differenz zustande? Der Grund ist ein Kompromiss zwischen Dauer der Beobachtung eines speziellen Objektes und der Kommunikationsmöglichkeit mit einer Zentrale.
Bild: die Molniya-Umlaufbahn mit Stundenmarkierung
Beobachtet werden sollte damals der nordamerikanische Kontinent über eine möglichst lange Zeitdauer. Kepler sagt mit seinem 2. Gesetz aus, dass sich Objekte langsamer bewegen, je weiter sie sich von einem Anziehungspunkt entfernen, d.h. wenn der Satellit von Süden in Richtung Nord-Ost zieht, verlangsamt sich seine Geschwindigkeit, so dass er – ergo – länger über der nördlichen Halbkugel verweilt. Die Rückkehr erfolgt 12 Stunden später auf den Breiten der um 180° gedrehten Erde – ergo – wieder im selben Längengradbereich als beim Verlassen.
Der Satellit entfernt sich also von der Erde und erreicht auch selbiges Areal wieder als es über der Nordhalbkugel im US-Staat Montana, nahe der Malstrom Air Force Base einen Raketenstart bemerkt. Dort waren damals wie heute Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman III stationiert. Die Minuteman III weisen eine Länge von 18,23 Meter sowie eine Dicke von 1,70 Meter auf. Die Reichweite beträgt ca. 13.000 km bei einer Geschwindigkeit von 29.000 km/h und einer Dienstgiphelhöhe von 1.300 km. Der Start einer Interkontinentalrakete wie die Minuteman wird von Kosmos nicht bei Öffnen der Bunkerschächte oder des Starts registriert. Kosmos ist darauf angewiesen, dass der Startstrahl nach Abheben kontrasttechnisch von der Schwärze des Weltalls bzw. vom Hintergrund unterscheidbar ist.
Überlegungen.
Gehen wir davon aus, dass die Minuteman III mit einer anfänglichen Beschleunigung von a = 16,5 m/s² das Silo verlässt: nach nur t = 60 Sekunden weist die Rakete eine Geschwindigkeit von v = a * t = 16,5 * 60 = 990 m/s * 3,6 = 3564 km/h und hat bereits eine Entfernung von s = a * t² / 2 = 16,5 * 60² / 2 = 29700/ 1000 = 29,7 km zurückgelegt. Nach fünf Minuten sind beträgt die rechnerische Geschwindigkeit bereits 23.760 km/h bei einer zurückgelegten Distanz von 1.320 km wobei wir bei beiden Werten nach und nach die maximale Geschwindigkeit und die Dienstgipfelhöhe erreicht haben. Im Optimalfall ist die Rakete bereits höher gestiegen als Kosmos.
Der Fehler.
Kosmos erkannte nicht, dass es sich bei dem erkannten Abgasstrahl der Minuteman III eigentlich um reflektierendes Sonnenlicht in sogenannten high-altitude-clouds oder „high clouds“ handelt, die sich in der Troposphäre bei 5 bis 12 Kilometer bilden. Computerfehler?
Weitere Überlegungen.
Die Kernaussage, die ich Ihnen über diesen Beitrag näher bringen möchte ist, dass eine Fehlinterpretation eines Ereignisses – Wolke anstatt Raketenstrahl – die wohl weitreichendsten Folgen überhaupt hätte haben können. Und die Routinen liefen auf beiden Seiten Ost und West über Jahrzehnte hinweg 24/7 in mehreren Satellitensystemen (für die ständige Beobachtung setzten russische Streitkräfte bis zu vier Oka-Systeme ein)! Im vorliegenden Falle war eine Überprüfung über optische Systeme durch Kameratechnik nicht möglich, da die Tagezeit durch die Tag-Nacht-Schranke dafür suboptimal gewesen ist. Letztlich ist wieder der Mensch die beurteilende Instanz mit „Bauchgefühl“. Dient eine Maschine als Glied in einer Prozesskette, so muss man sich stets bewusst sein, dass zwar innherhalb dieses deterministisch agierenden Kettengliedes grundsätzlich vorausssagbare Informationen weitergegeben werden, die Summe an Aussagen oder die Tragweite bzw. die Auswirkung dieses – ich nenne es – Biotops überblickbar sein soll. Letztlich war Petrov ein Prüfglied in der Kausalkette, der – es hätte diese Stelle nicht geben müssen – die Informationen entgegennimmt, auswertet und daraus weitere Aktionen antriggert.
Mir kommen soeben Aussagen von Unternehmen in den Sinn, die selbständig-agierende Kraftfahrzeuge seit einigen Jahren im öffentlichen Verkehr testen. Es gab bereits mehrere Verkehrsunfälle. Hier war der Mensch eben nicht die letzte Instanz sondern die Situation wurde beurteilt durch Signale, die von Sensoren an Algorithmen übergeben wurden. Die Reaktion der Testfahren und der Unternehmen war in den meisten Fällen identisch: Der Computer hat den Unfall nicht verursacht. Es war der Mensch am Steuer des beteiligten anderen Fahrzeuges.
Erst in den frühen 2000ern lobte man Petrov in Ost und West für seine weitreichenden Entscheidungen.